Qian Martin, Mitte 30, arbeitet heute als Ingenieur in der deutschen Automobilindustrie. Seine Familie steht schon seit mehreren Generationen in enger Verbindung mit der deutschen Kultur. Seine Großmutter heiratete einen deutschen Mann, sein Vater verbrachte den größten Teil seines Lebens in Deutschland und so zog es auch Herrn Martin nach seinem Abitur in China hierher, um an einer deutschen Universität zu studieren. In diesem Interview berichtet Herr Martin von den unterschiedlichen Erfahrungen, die er mit der deutschen und chinesischen Kultur gemacht hat.
Herr Martin, Ihre Familie hat einen sehr internationalen Hintergrund. Würden Sie Ihre Geschichte für uns erzählen?
Gerne. Beginnen wir mit der Geschichte meines Großvaters. Er war Deutscher und hat meine Großmutter in einer durchaus schwierigen Zeit während des Koreakrieges (1950-1953) kennengelernt.
Aufgrund der schlechten Verhältnisse während der Kulturrevolution in China (1966-1976) zogen meine Großeltern mit meinem Vater nach Deutschland. Er ist also größtenteils in Deutschland aufgewachsen und konnte hier später eine Anstellung als Werksleiter finden.
Durch die Gründung eines Joint-Ventures seines Arbeitgebers in China, führten ihn seine Wege zurück in die Heimat, wo er das Unternehmen leitete. Dort hat er auch meine Mutter, eine Professorin für deutsche Kultur, kennen und lieben gelernt.
Wenig später wurde ich geboren. Ich wuchs in China auf und kam schließlich nach dem chinesischen Abitur zum Studieren nach Deutschland. Deutschland lässt uns wohl nicht mehr los.
Ihre Familie steht seit mehreren Generationen in enger Verbindung zur chinesischen und deutschen Kultur. Hat sich das in Ihrer Erziehung bemerkbar gemacht?
Während meiner Schulzeit nicht. Meine Mutter bevorzugte das chinesische Schulsystem und so besuchte ich eine nationale Grundschule. Ich würde sagen, ich wuchs wie ein ganz normaler Chinese in China auf und hatte bis zu meinem 19ten Lebensjahr auch keinen großen Kontakt mit der deutschen Sprache.
Man muss jedoch auch sagen, dass der Anteil Deutsch sprechender Chinesen zu dieser Zeit sehr gering war. So hatte meine Mutter als Professorin in diesem Bereich recht viel Freizeit und arbeitete zu 50 Prozent in China und zu 50 Prozent in Deutschland, bevor sie schließlich vor einigen Jahren komplett nach Deutschland umsiedelte.
Allerdings kam ich durch meinen Vater öfters mit seinen deutschen Arbeitskollegen in Kontakt.
Ihre Kindheit haben Sie in China verbracht. Hat Ihr deutscher Familienname Sie in dieser Zeit von Anderen distanziert?
Das wäre sicherlich möglich gewesen. Genau aus diesem Grund habe ich zwei Familiennamen, sowohl einen deutschen, als auch einen chinesischen. In China war ich unter meinem normalen chinesischen Familiennamen bekannt. Erst als ich im Alter von 19 Jahren nach Deutschland gekommen bin, habe ich den Namen meines Vaters angenommen.
Kurz nach meiner Ankunft in Deutschland musste ich aufgrund amtlicher Gründe meinen deutschen Namen offiziell führen. In China würde mir wahrscheinlich trotzdem niemand glauben, dass ich deutsche Gene in mir trage. Mein äußeres Erscheinungsbild ist ja zu 100 Prozent chinesisch. Da haben die Gene meiner Mutter eindeutig überhand genommen.
Verstehen Sie sich denn abgesehen von Ihrem Aussehen eher als Chinesen oder Deutschen?
Das ist schwierig zu beantworten. Ich würde mich selbst zu 75 Prozent als Chinesen und zu 25 Prozent als Deutschen bezeichnen. Es gibt wahnsinnig große Unterschiede zwischen den Chinesen zweiter Generation, die in Deutschland geboren sind und denen, die zum Studieren hierher kommen.
Diejenigen, die hier aufgewachsen sind, haben sich meiner Meinung nach weder in der deutschen noch in der chinesischen Kultur richtig integrieren können. Diese sind im positiven Sinne ein Fall für sich. Das Wort ‚einzigartig‘ trifft wohl am besten auf diese Menschen zu.
Sie kamen zum Studieren nach Deutschland. Sind Sie aus eigenen Beweggründen hierher gekommen oder hatte diese Entscheidung etwas mit Ihrer Familiengeschichte zu tun?
In China war ich kein sonderlich guter Student und wollte einfach etwas anderes sehen. Auch wenn meine Noten vielleicht nicht die Besten waren, so hatte ich doch eine gehörige Portion Pfiff und war stets offen für Neues. Deutschland bedeutete für mich Freiheit und das Bildungssystem hat mich gereizt.
Natürlich spielten auch meine Eltern bei meiner Entscheidung nach Deutschland zu gehen eine wesentliche Rolle.
‚Etwas Neues sehen‘ sagen Sie? Erinnern Sie sich denn noch an Ihren ersten Tag in Deutschland?
Ich erinnere mich sogar noch sehr gut an meine Ankunft hier. Samstags bin ich in Frankfurt gelandet und habe mich erst einmal gefragt: „Warum komme ich eigentlich nach Deutschland?“.
Die Stadt war ab 16:00 Uhr wie ausgestorben, keine Menschenseele war zu sehen. Das war schon etwas ganz Anderes für mich. Mein erster Eindruck war trotzdem sehr positiv. Die Deutschen sind wirklich hilfsbereit.
Wie bereits erwähnt konnte ich bei meiner Ankunft kein Wort Deutsch und dann musste ich auch noch ein Zugticket von Frankfurt nach Karlsruhe lösen und den Weg dorthin herausfinden. Ich war heillos überfordert. Glücklicherweise wurde meine Not bemerkt und ein Deutscher stand mir unterstützend zur Seite und begleitete mich den ganzen Weg. Diese äußerst positive Erfahrung werde ich nie vergessen.
Hatten Sie denn damals ein festes Bild von Deutschen?
Nein, eher nicht. Ich weiß, dass jeder Mensch anders ist und bin auch sehr offen Anderen gegenüber. Ich kenne auch viele andere Ausländer – Amerikaner und Neuseeländer zum Beispiel.
Mein internationaler Hintergrund und die damit verbundene interkulturelle Kompetenz hilft mir dabei Vorurteile vor einem anderen Licht zu sehen. Mit anderen Kulturen umzugehen, fällt mir deshalb leicht.
Und wie sind Sie mit den sprachlichen Schwierigkeiten umgegangen? Es gehört ja doch eine Menge Mut dazu, ein Studium in einem Land zu beginnen, dessen Sprache man nicht spricht.
Da haben Sie schon Recht. Allerdings wurde mir das Talent Sprachen zu lernen in die Wiege gelegt. Ich lernte also recht schnell Deutsch, was eher das kleinere Problem darstellte.
Mit den enormen Unterschieden in der Studienweise, hatte ich dann allerdings doch zu kämpfen.
Können Sie uns hierfür einige Beispiele nennen?
Der erste Unterschied, der mir spontan in den Sinn kommt, hat mit Sport zu tun. In China ist Sport ein Prüfungsfach, egal welche Studienrichtung man einschlägt. Wenn Sie mich fragen, war dieses Fach das Schlimmste für mich.
Auch die Art, wie der Unterricht geführt wird, bringt enorme Unterschiede mit sich. In China nehmen die Professoren eine sehr wichtige Rolle ein und tragen dementsprechend auch mehr Verantwortung. Ich würde fast sagen, sie agieren wie ein Elternteil.
Zu meiner Zeit verbrachte der Student in China eigentlich seinen ganzen Tag an der Universität. Besuchte er keine Vorlesungen, so war er im Lehrraum zu finden, wo er unter Kontrolle seine anstehenden Aufgaben erledigte. In Deutschland ist man da ja doch viel ungebundener.
Die Studenten werden also anders „erzogen“ sagen Sie?
Ja, so kann man sagen. Hier in Deutschland ist der Student eher ergebnisorientiert und handelt viel freier. Er ist für seine Note selbst verantwortlich, richtet seinen Blick auf das Ergebnis, aber den Weg zum Ziel bestimmt er selbst.
In China ist der Weg sozusagen vorgegeben, alles wird streng kontrolliert. Tagtägliches Üben ist angesagt. Auch hierbei steht einem der Professor zur Seite – nicht nur zur Kontrolle, sondern insbesondere für ein umgehendes Feedback.
Und welches System bevorzugen Sie persönlich?
Das ist eine gute Frage. Mittlerweile würde ich fast sagen, dass mir das chinesische System besser gefällt. Hätte ich Kinder, würde ich Sie wahrscheinlich auch nach China schicken, vorausgesetzt, die Regierung bekommt die Probleme mit der Umweltverschmutzung und der Lebensmittelsicherheit in den Griff.
Also streng nach dem Vorsatz „Vertrauen ist gut Kontrolle ist besser?“
(lacht) So kann man das natürlich auch sagen. Aber Sie haben Recht, das war wohl auch der Grund meiner Mutter, mich in China aufwachsen zu lassen.
Passiert nichts Schlimmes, kann auch nichts schief laufen und das ist durch die Kontrolle im chinesischen Schul- und Studiensystem ja quasi gewährleistet. Verhält sich ein Kind in der Schule nicht richtig, dann werden die Eltern direkt benachrichtigt.
Verstehen Sie mich nicht falsch – es geht mir hierbei nur darum, dass die Kinder behütet aufwachsen.
Sie könnten es sich also vorstellen auf lange Sicht zurück nach China zu ziehen?
Theoretisch schon, jedoch gibt es auch einige Probleme. Wie bereits angesprochen spielt die Verschmutzung, nicht nur der Luft, sondern auch der Lebensmittel, eine große Rolle. Gesundheit ist also ein Aspekt, der mich davon abhalten würde nach China zu gehen.
Und auch die Lebenshaltungskosten sind sehr hoch. Mit meinem Gehalt könnte ich meine – noch nicht vorhandenen – Kinder also momentan nicht so unterstützen, wie ich es mir vorstelle und wünsche. Die nächsten 10 Jahre wird ein Ortswechsel wohl nicht anstehen.
Aber danach – wer weiß. Die Familie meiner Frau ist auch noch in China und meine Mutter möchte bestimmt auch mal zurück.
Das Interview führte Sonja Strempel. Der Name “Qian Martin” wurde von der Redaktion geändert.