Interview mit Wirtschaftsingenieurin Lin Müller

Lin Müller ist eine chinesische Wirtschaftsingenieurin, die seit 15 Jahren in Deutschland lebt, sich persönlich und beruflich umfassend integriert hat und ihre Karriere ambitioniert verfolgt. Sie ist eine qualifizierte Einkaufsleiterin mit internationaler Projektverantwortung, die ihre Ziele freundlich, aber konsequent verfolgt. Dabei ist Sie als Führungskraft sehr geschätzt. Sie hat sich mit viel Einsatz und Persönlichkeit sowie mit Präsentationskompetenz und guter Organisation auch im deutschen Umfeld stets erfolgreich die Anerkennung ihrer Kollegen und Vorgesetzten erarbeitet. Als sie vor kurzem Mutter wurde, stand sie vor einer neuen Herausforderung: Familienleben und Karriere unter einen Hut zu bekommen.

Aufgrund welcher Umstände sind Sie vor 15 Jahren nach Deutschland gekommen?

Es war keine spontane Entscheidung von mir. Ich habe es im Voraus geplant. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich für einen staatlichen Maschinenimporteur gearbeitet und war dort im Bereich Werkzeugmaschinen tätig. Das Unternehmen importierte zu einem großen Teil aus Deutschland, da die deutschen Unternehmen marktführend waren.

Aufgrund der intensiven Zusammenarbeit und dem Kontakt mit Deutschen entwickelte sich nach und nach ein Interesse meinerseits für das Land. Daraus resultierte mein Wunsch, dort eine Zeit lang zu leben.

Schließlich kam ich als Au-pair, da es zu diesem Zeitpunkt noch nicht viele Möglichkeiten gab, nach Deutschland zu kommen.

Welche Auswirkung hatte diese Entscheidung auf den Rest Ihres Lebens?

Ich bin zufrieden, wie sich meine Lebenssituation über die Jahre entwickelt hat und mit dem, was ich beruflich erreicht habe, seit ich hier her gekommen bin.

Darüber hinaus ist mein Lebensstandard jetzt wesentlich höher als früher.

Aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre in China, kann ich natürlich nicht wissen, ob meine Lebensumstände nicht genauso gut, wenn nicht sogar besser wären, wenn ich dort geblieben wäre.

Was war Ihre erste Reaktion als Sie erfahren haben, dass Sie schwanger sind? Haben Sie als erstes an Ihre Karriere gedacht?

Es war ein aufregender Tag. Vormittags habe ich erfahren, dass ich schwanger bin und nachmittags, dass ich zur Leiterin des Einkaufs befördert werde.

Mein erster Gedanke war, dass es Schicksal ist. Ich war vollkommen überzeugt davon, dass ich beides verbinden kann.

Natürlich war es mir bewusst, dass es in der Praxis schwierig wird und ich auf beiden Seiten Kompromisse schließen werden muss. Wenn ich z.B. nur fünf Stunden am Tag mit meinem Kind verbringen kann, werde ich diese Zeit viel intensiver mit ihm nutzen müssen.

Vor der Geburt Ihres Kindes waren Sie eine erfolgreiche Karrierefrau. Seit der Geburt Ihres Kindes haben sich Ihre Prioritäten, bezüglich Karriere und Familie wahrscheinlich verändert. Wie sieht Ihre Gewichtung heute aus?

Lassen Sie mich die Frage anders formulieren. Sie meinen wohl eher Karriere oder Kind? Als mein Mann und ich noch zu zweit waren, hatte jeder von uns mehr Entscheidungsfreiheit. Natürlich steht mein Kind nun an erster Stelle, was meine Prioritäten angeht, jedoch klappt es gut, Karriere und Kind unter einen Hut zu bringen.

Müsste ich mein Familienleben, insbesondere die Zeit mit meinem Kind, dafür drastisch einschränken, würde ich meine Karriere hinten anstellen.

In Deutschland ist es üblich nach der Geburt ein bis zwei Jahre zu Hause zu bleiben, um Zeit mit dem Kind zu verbringen.
Ich denke, das ist ein typisch deutsches Phänomen. Viele deutsche Mütter haben das Gefühl, wichtige Zeit, die sie mit ihrem Kind verbringen sollten, zu opfern, wenn sie direkt nach der Geburt arbeiten gehen.

In der chinesischen Kultur ist es jedoch normal, schnell die Arbeit wieder aufzunehmen. Die meisten meiner chinesischen Freundinnen, die hier in Deutschland sind, leben genauso.

Ich kenne eher wenige chinesische Frauen, die für längere Zeit zu Hause bleiben wollen. Die Kinder sind dann meistens bei den Großeltern oder in der KiTa. Ich bin der Meinung, dass die Betreuung zu Hause nicht die einzige Art und Weise ist, dem Kind seine Liebe zu zeigen.

Was ist Ihre Art, Ihrem Kind Liebe zu zeigen?

Meiner Meinung nach ist Liebe, dem Kind eine richtige Erziehung zu geben; dies beinhaltet auch, ihm von Anfang an die richtige Lebenseinstellung und eine gute Bildung mit auf den Weg zu geben.

Wahrscheinlich liegt es an meinem chinesischen Hintergrund, dass Bildung und Erziehung für mich so eine große Rolle spielen. Sehr gute schulische Leistungen sind natürlich wichtig, haben für mich in der Erziehung aber nicht die höchste Priorität. Selbstverständlich möchte ich, dass mein Kind glücklich ist. Ich werde immer versuchen, ihm die Sicherheit zu geben, die es braucht.

Aber das Leben ist nicht immer heiter und fröhlich und wir Eltern werden nicht immer da sein können. Deshalb ist es mir wichtig, meinem Kind beizubringen, dass das Leben auch mal Zeiten der Trauer und des Schmerzes beinhaltet und man für manche Dinge hart kämpfen muss.

Um in der Lage zu sein, das zu verstehen und umsetzen zu können, muss es lernen selbständig zu sein.

Sind Sie wie andere „typische“ chinesischen Eltern und erwarten überdurchschnittlich viel von ihrem Kind?

Glücklicherweise wächst mein Kind in Deutschland auf und hat die Möglichkeit, eine „wahre“ Kindheit zu erleben. In China stehen Kinder unter großem Druck, schon so früh wie möglich, so viel wie möglich zu lernen. Bereits im Vorschulalter werden ihnen Dinge wie Englisch oder Mathematik beigebracht.

Weil es so viele Menschen – also auch „Konkurrenten“ – in China gibt, muss man immer besser sein als die anderen, um eine gute Zukunft zu haben, sofern man keine reichen Eltern hat.

Ich möchte, dass mein Kind China und die chinesische Kultur kennt und weiß, woher seine Mutter stammt. Es soll chinesisch sprechen, lesen und schreiben lernen, auch wenn es nicht einfach sein wird, ihm dies ohne die entsprechende sprachliche Umgebung beizubringen.

Ihr Mann ist Deutscher, Sie sind Chinesin. Was ist der größte kulturelle Unterschied zwischen Ihnen und Ihrem Mann?

Ich würde sagen, unsere Art zu denken. Obwohl mein Mann 1 ½ Jahre in China gearbeitet hat, sehr vertraut ist mit der chinesischen Kultur und immer offen ist, neue Kulturen kennenzulernen, sind unsere Denkweisen an manchen Stellen doch sehr verschieden.

Ich glaube, dass ich mittlerweile eine ziemlich deutsche Denkweise habe, aber manchmal ist es einfach nicht nötig, nach Perfektionismus zu streben.

Im Gegensatz zu den Deutschen sind Chinesen sehr pragmatisch veranlagt. Schnell finden sie eine kurzfristige Lösung für ein spezielles Problem. Deutsche hingegen versuchen meistens, eine endgültige und generelle Lösung zu finden, deshalb dauert es häufig etwas länger.

Hatten Sie in Deutschland jemals Schwierigkeiten, sich anzupassen?

Nicht wirklich. Als ich nach Deutschland kam, war ich sehr entschlossen, mich an die deutsche Kultur anzupassen und meine Karriere zu verfolgen. Ich war von Beginn an sehr offen für die Kultur, sodass ich diesbezüglich keine negativen Erfahrungen gemacht habe; denn wie man in den Wald ruft, so schallt es auch zurück.

Ich habe selten daran gedacht, wie es in meiner Kultur wäre; im Gegenteil, ich habe immer versucht, die deutsche Kultur zu verstehen.

Ab welchem Zeitpunkt haben Sie angefangen, zu denken, dass Sie ohne Probleme in Deutschland zurechtkommen?

Nach zwei Jahren. Bevor ich gekommen bin, musste ich mir Geld zusammensparen, um meinen Aufenthalt zu finanzieren. Ich wollte meine Eltern nicht nach dem Geld fragen, da sie nicht so viel verdienten, um mich in dieser Hinsicht zu unterstützen.

Mein erstes halbes Jahr in Deutschland war sehr schwer, weil ich keinen Studentenjob finden konnte. Zu diesem Zeitpunkt war es ausländischen Studenten gesetzlich nicht erlaubt, mehr als 90 Tage im Jahr zu arbeiten, sodass ich in diesen 90 Tagen so viel Geld wie möglich verdienen musste, um meinen Unterhalt für den Rest des Jahres zu sichern.

Es war beängstigend, zu sehen wie der Betrag auf meinem Konto immer kleiner wurde. Zuerst habe ich erfolglos versucht, in chinesischen Restaurants zu arbeiten.

Drei Monate später habe ich es mit Hilfe des Dekans meiner Universität geschafft, ein Unternehmen zu finden, in dem ich als normale Werkstudentin arbeiten konnte. Zwei Jahre später wurde mir die Möglichkeit geboten, ein Praktikum in diesem Unternehmen zu machen, da meine Vorgesetzten einen sehr guten Eindruck von mir hatten. Ich verdiente 1.400 € im Monat.

Zum selben Zeitpunkt führte die Universität ein Stipendium für ausländische Studenten mit sehr guten Noten ein, sodass ich zusätzlich 700 € bekam. Ich war wirklich sehr glücklich, dass mein Lebensunterhalt schließlich gesichert war und ich sogar noch Geld hatte, mir einmal im Jahr ein Flugticket in meine Heimat zu kaufen.

Es ist nicht einfach als Ausländer Karriere in Deutschland zu machen. Wie war Ihre Erfahrung?

Das Gute an Deutschland ist, dass die Entwicklung einer Karriere von Kompetenz und nicht von sozialen Kontakten und „Vitamin B“ abhängt.

Abgesehen davon, dass ich eine Ausländerin bin, arbeite ich in einer Branche, in der die Kollegen überwiegend männlich sind. Aus diesem Grund musste ich mehr leisten und Kraft aufwenden als manch anderer. Besonders im ersten halben Jahr in der neuen Position habe ich sehr hart gearbeitet, um von meinen Kollegen akzeptiert zu werden.

Als sie jedoch erkannt haben, dass meine Leistung wesentlich besser ist als die vieler anderer, haben sie mich nicht nur als ihre Kollegin akzeptiert, sondern auch als Führungsperson eines reinen Männerteams respektiert.

Sie sind eine Frau mit viel Courage. Woher kommt diese Stärke?

So bin ich einfach. So haben meine Eltern es mir beigebracht. Auch in meinen schwersten Momenten habe ich mir gedacht: „Wenn jemand anderes das schaffen kann, kann ich das auch. Aber auch wenn niemand anderes es schaffen kann, kann ich es trotzdem.“.

Ich erinnere mich daran, was meine Mutter einmal gesagt hat: „Wenn du noch nicht mal wagst, davon zu träumen, wirst du es erst recht nicht erreichen.“.

 

Das Interview führte Wei Fischer. Der Name “Lin Müller” wurde von der Redaktion geändert