Es braucht offenbar den 94-jährigen Altbundeskanzler Helmut Schmidt, um in Deutschland die Maßstäbe gerade zu rücken. Er darf im Fernsehen rauchen und er darf auch sagen, dass die Menschenrechte ein Konzept der westlichen Welt sind. Ein großartiges Ergebnis der Aufklärung und der westlichen Philosophie, das zu einem der wichtigsten Grundprinzipien unserer Demokratie geworden ist.
Aber das heißt nicht notwendigerweise, dass dieses Konzept in anderen Teilen der Welt – besonders solchen mit einer ganz anderen Geschichte und Tradition – den gleichen Stellenwert haben muss.
Die chinesische Führung hat sich für den Weg der Repression entschieden, als sie 1989 den Studentenprotesten auf dem Tian’anmen Platz nicht mehr Herr wurde. Viele Menschen – auch in China – hielten das für einen furchtbaren Fehler. Selbst in der Partei war der Militäreinsatz höchst umstritten.
Die brutale Niederschlagung der Studentenbewegung war seinerzeit auch deshalb ein so massiver Schock, weil nach den grausamen Jahren der Kulturrevulotion Stück für Stück Meinungsvielfalt und etwas Pluralität in China Einzug gehalten hatten und deshalb kaum jemand mit einer so massiven Reaktion gerechnet hatte.
Einheitliche Meinung
In der chinesischen Gesellschaft hat dieser Einschnitt massive Spuren hinterlassen. Die seitdem geltende Doktrin der einheitlichen politischen Meinung und die damit verbundene Intransparenz auf allen politischen Ebenen hat einen hohen Preis gefordert. In Verbindung mit den im Land seit rund 30 Jahren fast ungezügelt wirkenden Prinzipien des Kapitalismus hat sie vor allem zu einem dramatischen Korruptionsproblem in den politischen und politiknahen Klassen geführt.
Trotzdem ist es scheinheilig, der Regierung heute vorzuwerfen, ihr oberstes Ziel sei der Machterhalt. Erstens gilt das für die meisten Regierungen in den meisten Ländern und zweitens ist Macht ja tatsächlich erste Voraussetzung wirksamen politischen Handelns – egal wie gut oder schlecht die Absichten der Regierenden sind.
Eine Weltmacht kämpft um Ansehen
Das Ziel der chinesischen Regierung ist relativer Wohlstand für die Bürger des Landes – auch darin unterscheidet sie sich nicht von vielen anderen. Und sie möchte China wieder in eine Position als respektierte Weltmacht führen.
Das ist nicht nur aus ihrer Perspektive nachvollziehbar und angemessen: China stellt ein Fünftel der Weltbevölkerung, hat eine große kulturelle Tradition und versteht sich seit Jahrhunderten als Mitte der Welt – wie in gewisser Weise übrigens auch Europa und die USA.
Aus chinesischer Sicht ist es ganz natürlich, dass etwa ein Land wie England, das einige Jahrhunderte lang die halbe Welt kolonialisiert hat und dadurch zur Großmacht aufgestiegen ist, Stück für Stück im Weltgefüge wieder weniger wichtig wird, nachdem es die „erworbenen“ Gebiete im Laufe der Geschichte wieder abgeben musste. Und dass China an Bedeutung zunimmt, nachdem es wirtschaftlich und technologisch wieder Anschluss findet.
Keine „gelbe Gefahr“
Die chinesische Regierung wahrt ihre nationalen Interessen – oder was sie dafür hält – und wie viele Staaten tut sie das mit Mitteln, die im Einzelfall nicht immer hohen moralischen Ansprüchen genügen.
Die Dämonisierung eines ganzen Volkes durch Begriffe wie denen von der „gelben Gefahr“ oder von den „gelben Spionen“ (noch im 2007 im Spiegel 35/07!) ist trotzdem absurd. Zumal ein beachtlicher Teil der Bürger ein durchaus kritisches Verhältnis zur eigenen Regierung hat.
Für einen chinesischen Imperialismus jenseits der eigenen – vorwiegend der wirtschaftlichen – Interessen gibt es keine Anzeichen. Es ist zu hoffen, dass Einlassungen wie die des weisen und greisen Helmut Schmidt dazu beitragen, die Einstellung der breiten deutschen Bevölkerung zu China weiter von Ängsten zu befreien und zu entspannen.
Linktipps zum Thema:
ARD-Mediathek: Helmut Schmidt bei Beckmann
ARTE-Beitrag „China – Die neue Supermacht“